03.04.2020

Beitrag | Die andere Seite der Nahrungskette

Der Kampf mit den Kundengeldern Die andere Seite der Nahrungskette. Sarah Stücker, im Bild mit Partner Gebhard Zürn, hat sich in den letzten 10 Jahren als Lodge-Betreiberin im kanadischen Yukon eine Existenz aufgebaut. Auch dort, quasi am Ende der Welt, sind die Corona-Auswirkungen massiv spürbar.

 

Ist es sinnvoll, wenn Kundengelder jetzt in jedem Fall und stets vollumfänglich zurückgegeben werden? Beobachtungen und Bedenken einer touristischen Kleinunternehmerin mit Schweizer Wurzeln in Kanadas Yukon.

«Mitte Februar – das Coronavirus wird in den Nachrichtenumlauf gebracht. Kanada beobachtet, im Yukon fühlen wir uns relativ sicher. Wir empfangen weiterhin freudig Touristen aus aller Welt, beherbergen sie in unseren Hotels, fahren sie mit Kleinbussen herum, tauschen Bargeld aus.

Mitte März – das öffentliche Leben steht auch hier fast still, Einrichtungen werden geschlossen und die unaufhaltbare Welle nimmt ihren Lauf. Annullationen, Umbuchungen gehen los. Erste Umfragen zur Schadenserfassung werden an Unternehmen verschickt. Es folgt das panische Unterfangen, die letzten Gäste noch durchzuschleusen und aus dem Territorium zu kriegen, die Sicherheit der Angestellten zu gewährleisten und unsere abgelegenen Gemeinden vor einem Ausbruch bestmöglich zu schützen. Wir hoffen weiterhin, dass Reisen innerhalb Kanadas und des Yukons immer noch möglich sind. Unsere Einwohner sind ein wichtiger Markt.

Am 22. März dann die einschneidenden Massnahmen auch hier oben: keine nicht-notwendigen Reisen mehr in die Gemeinden oder ausserhalb des Territoriums. Alle ankommenden Reisenden müssen sich für zwei Wochen isolieren. Wir sind nicht einmal aufgebracht darüber, wir alle wollen unsere kleinen Gemeinden, deren Einwohner und uns selbst schützen. Auf der geschäftlichen Seite gehen die Annullationen weiter. Anfragen für Rückerstattungen treffen ein.

Für die Wintersaison zeigen wir uns alle grosszügig, erstatten Geld zurück und/oder annullieren kostenlos. Es tut zwar weh, aber in so einer Situation verliert jeder. Wir wollen gute Partner sein, wollen die Gäste im nächsten Jahr willkommen heissen. Nun aber treffen Annullationen für den Sommer ein. Wir wissen nicht: Sollen wir Anzahlungen zurückerstatten? Können wir uns das überhaupt leisten? Wir überprüfen unsere Verträge mit Veranstaltern, unsere Annullationsbedingungen. Einige von uns haben nichts in der Hand gegen den Abfluss des Geldes, einzig die Aussicht auf Umbuchung. Andere verlangen nicht-rückerstattbare Anzahlungen oder haben fixe Annullations-Beträge direkt nach bestätigter Buchung. Anfragen zur Minderung der Bedingungen gehen ein. Wir sind in der Zwickmühle.

Grosse Sorgen um das lebenswichtige Sommergeschäft

In den allermeisten Fällen betreffen diese Anfragen Eigenständige, deren Lebensstil vom Angebot abhängig ist und umgekehrt. Konkret heisst dies – keine Arbeitslosen-Versicherung, kein Sicherheitsnetz eines Grossunternehmens, in vielen Fällen Schulden, Hypotheken und hohe Fixkosten. Die Schweizer Hotellerie hat darüber bereits Zahlen veröffentlicht. Zwar springt auch hier der Staat nun ein für all jene, die «zwischen Stuhl und Bank» fallen. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Art und Weise, wie wir unser Geld verdienen – und hoffentlich nach der Krise auch noch verdienen werden – stark gefährdet ist.

Die verkürzte Wintersaison können die meisten noch verkraften, man bunkert sich ein und hofft es wird bald besser: Hoffnung auf den Sommer. Gemeinsames Bestreben der Anbieter und Partner in Übersee, dem Kunden zur Umbuchung anstatt Annullation zu raten. Doch sie gehen weiter, die Annullationen. Am 27. März berichten bereits fast 50% der durch die Travel Industry Association of Yukon (TIA) befragten lokalen Tourismus-Anbieter von bis zu 50 Annullationen für den Sommer betroffen zu sein. Es treffen keine Neubuchungen mehr ein - durchaus verständlich. Fast 7% berichten laut der TIA-Studie gar, alle Buchungen für den Sommer seien annulliert.

In der Schweiz ereifern sich die Grossveranstalter derweil, dass es immer schwieriger wird, das Geld der Kunden zurück zu kriegen. Dass momentan für sehr viel Arbeit nichts reinkommt, liegt auf der Hand. Damit haben wir uns in unserer krisenanfälligen Branche längst abgefunden. Im Gegensatz aber zum grossen, breit abgestützten Reiseveranstalter – dessen Buchungen nach Ende der Krise wieder ansteigen werden – schaut der End-Anbieter, Beherberger oder Tourguide mit grosser Wahrscheinlichkeit auf einen gähnend leeren und leer bleibenden Kalender für die kommende Sommersaison. Diese dauert im Yukon vier Monate. Anderen Destinationen sind ähnliche Saisonalitäten auch wohlbekannt (an dieser Stelle Grüsse an mein Heimatland!).

 

«Am Ende müssen vielleicht die Veranstalter ihre Kataloge und Angebote drastisch umstellen, weil ihnen die halbe Angebotspalette fehlt.»


Es bestreitet niemand, dass die Situation unmöglich ist für Mitarbeitende, Firmenbesitzer sowie Kunden. Jeder ist betroffen. Doch je weiter man der Nahrungskette nach unten folgt, desto prekärer wird die Situation.

Ein kleines Rechenbeispiel: Ein hübsches Inn mit 6 Zimmern verlangt 100 Dollar Anzahlung bei Buchung. Gemäss Konditionen nicht rückerstattbar. Bei einer Auslastung von 80% in der (kurzen!) Sommersaison sind dies fast 60'000 Dollar. Noch nicht genug, um im Winter über die Runden zu kommen, aber es reicht, um die Kosten zu decken.

Nun annulliert der Reiseveranstalter – in dessen Mietwagenrundreise das Inn ein Bestandteil ist – sämtliche Reisen bis sagen wir Ende Juli und möchte wegen «unkontrollierbarer Umstände» die Anzahlung zurück, weil er dem Kunden aufgrund der Rechtslage oder Betriebs-Direktiven sein Geld zurückgeben muss. Der einzelne Kunde verliert sein Arrangement, eine Investition von 4000-6000 Franken mit was wir hier als «disposable income» bezeichnen. Ein Betrag, welcher der Kunde gerne zurück hätte, da die Existenz-Angst sich auch in Europa breit macht. Das hübsche Inn, welches einen Grossteil seiner Kundschaft über den indirekten Kanal erhält – verliert über 14'000 Dollar in nur einem Monat. Die Kette kann beliebig weitergesponnen werden (Lieferanten des Inns verdienen auch weniger, etc.).

Das soll nicht heissen, dass Anfragen für Rückerstattungen der Normalfall sind. Sondierungen bei lokalen Anbietern zeigen, dass sich die meisten Partner bemühen, eine für beide Seiten gangbare Lösung zu finden. Als Kampf sollte dies nicht bezeichnet werden, aber es ist für beide Seiten ein Kampf ums Überleben.

Denken wir einmal über mögliche Konsequenzen nach. Was ist es, was den Yukon für den europäischen Besucher so attraktiv macht? Vorneweg die Natur, die Weite, die dünne Bevölkerungsdichte. Auf zweiter Ebene steht für viele Reisende die Authentizität des Kleinbetriebes, die Identität unserer Einwohner – ein Cabin irgendwo versteckt im Busch, selbstversorgend. Ein Mitglied der lokalen First Nations, der seine Gäste zur Karibu-Beobachtung und zum Eisangeln und Geschichten-Erzählen mitnimmt. Eine Blockhaus-Lodge inmitten des Nirgendwo. Ein Anbieter von Bootstouren, ein Leiter von Wandertouren und Wildtier-Beobachtungen. Was passiert nun, wenn ein Grossteil dieser Anbieter sich nicht mehr über Wasser halten können? Sie stellen ihr Angebot ein und suchen einen anderen Lebensunterhalt. Wie sieht dann die Angebots-Landschaft aus, wenn potentielle Gäste aus Übersee im nächsten Jahr die lang-ersehnte Yukon-Reise (man kann «Yukon» hier übrigens mit Neuseeland, Kambodscha, Tanzania und anderen ersetzen) unternehmen möchten? Ziemlich leer. Die Natur ist nach wie vor da, aber die eng damit verbundenen Menschen, die mit grossem Stolz den Besuchern ihr Territorium zeigen, die sind nun woanders. Immer noch im Yukon, aber nicht mehr an der Tourismus-Front, nicht mehr Teil des Reizes, Teil der berühmten Gastfreundschaft. Am Ende müssen vielleicht sogar die Veranstalter ihre Kataloge und Angebote drastisch umstellen, weil ihnen die halbe Angebotspalette fehlt.


«Jetzt ist es Zeit für die stärkeren Partner, Solidarität zu zeigen.»


Nun wollen wir den Teufel nicht an die Wand malen. Die Angst ist zwar gross und wie wir alle in kürzester Zeit gelernt haben, müssen wir unsere eigenen Einstellungen täglich überdenken, unsere Meinungen anpassen. Aber der entscheidende Sommer ist noch nicht hier. Viele Reiseveranstalter haben sich über die Jahre zu soliden und wichtigen Partnern für mehr und mehr Kleinbetriebe entwickelt.

Jetzt ist es Zeit für die stärkeren Partner, Solidarität zu zeigen. Jene Betriebe und Unternehmen zu schützen, welche ihre Gäste über Jahre empfangen und betreut haben. Ihnen mit Spezialangeboten und Exklusiv-Verträgen einen Marktvorteil verschafft haben. Dies gilt für weltweite Angebote, nicht nur im wohlhabenden Kanada. Staatlich unterstützte Kurzarbeit in Kambodscha? Dieses Wort gibt es noch nicht mal. In der aktuellen Situation braucht ein Veranstalter noch nicht einmal mehr mit der Unterstützung eines sozialen Projektes zu werben – Ihre Buchungen SIND das Sozialprojekt. Wir sind nach wie vor zuversichtlich, dass man noch immer und weiterhin miteinander reden kann, drohende Annullationen von Fall zu Fall zu betrachten und zusammen retten was noch zu retten ist. Wir verfolgen doch alle dasselbe Ziel: unsere gemeinsamen Kunden wenn immer möglich zum Reisen zu ermuntern, wenn es denn wieder Sinn macht und «sicher» ist.

Dies als Gedankenanstoss für all jene, die so hart dafür kämpfen, die Anzahlungen und (Voraus-) Zahlungen ihrer Kunden wieder zurück zu kriegen. Die Klein- und Kleinstunternehmer der Leistungskette danken Ihnen.